Peter Wagner [AT]

Textbeitrag von Peter Wagner
für »cahier d‘art« 2016 »

Numerus
primus – Die Last
der Primzahl


Ein Triptychon

GOBI

Ich fuhr, am Abend dieses Sommers, durch eine Wüste. Es war die Gobi, die in der Betonung der Mongolen kurz gesprochen – und breit gehalten wird. Im Nichts das Leben. Und auch das Aas. Der Fahrer deutete, irgendwann, auf das
glänzende Feld der Schwarzen Tropfen.

Es waren Geier, die ihr Handwerk taten, verschmolzen mit und doch
so abgehoben von dem Spiegel der Wüste.
Zurückgekehrt aus der Wüste gab ich mich der Wüste einer Autobahn hin, an deren Pannenbucht Lebloses abgestellt worden war zu einer letzten Anmerkung, die man Identifizierung nennt. Sie residierte als Königin des Unfassbaren in den Träumen der vielen, die in der Wüste der Zivilisation ihr Handwerk tun.
Ich verließ die Wüste dieser Autobahn nicht, ich versuchte im Gegenteil, ihr Weidevieh zu sein. Schlaf brachte es mir nicht – aber die Gewissheit, ein Bruder der Toten zu sein.
Und auch einer der Geier. Die, wie immer,
nichts als ihr Handwerk tun.

Ich war bei der Öffnung des LKWs in Nickelsdorf im Grenzbereich anwesend. Es war überhaupt nicht abschätzbar, wie viele Personen tatsächlich verstorben waren. Man wusste nur, dass es sehr viele sein würden. Ich habe auch die Entladung des LKWs persönlich mitverfolgt. Es war unglaublich. Ein Opfer nach dem anderen wurde geborgen, bald waren es 20 und man hatte das Gefühl, der LKW sei immer noch voll. Uns war sehr bald klar, dass es ein Vielfaches von 20 sein würden.
Es war eigentlich … unglaublich.

Johann F., Staatsanwalt

Ich lege Zeugnis für die Toten ab. Ich lege Zeugnis für die Geier ab.
Im Namen des Lebens.
Im Namen des Lebens.
Im Namen des Lebens.

FRAGE ZEICHEN

Der Absatz meiner Schuhe hatte mir von den Häusern der Hauptstraße in Oberwart entgegengeschlagen, bevor ich das Lokal betrat. Die Straße, die Straße, das Ziel und der Tod, hatte mir der Absatz zugerufen. Dabei wusste ich in Wahrheit nichts von dem, was das Ziel war und dann sein Tod. Und wohin mich mein vorgeworfener Schritt an diesem Abend tragen würde.
Bei kleinem Schwarzen und Melange googelte der Minister und streckte mir das Handy entgegen. Das sei das Foto, sagte er, über dessen Veröffentlichung nicht nur der Staatsanwalt, sondern auch er selbst sich maßlos empört habe. Bis heute wisse man nicht,
wer das Foto an die Kronen Zeitung weitergeleitet habe.

Je näher ich an den LKW herangekommen bin, umso ärger hat es nach verwesendem Fleisch gerochen, und als ich dann auf der Höhe des LKWs war, habe ich gesehen, dass es aus ihm heraustropft. Dann habe ich noch ganz gut das Bild von meinen Kollegen in blankem Entsetzen vor Augen. Und da hatte ich dann bereits das ungute Gefühl,
dass tatsächlich etwas Gröberes passiert ist.

Wolfgang W., Sanitäter

Ich sehe vielleicht zwei, vielleicht fünf Sekunden lang den Aufbau des LKWs in der Pannenbucht von schräg hinten, die rechte Ladetür ist geöffnet. Eine der beiden Figuren sitzt rechts, Kopf, Schultern und ein muskulöser Oberkörper sind zu erkennen. Der ebenfalls kräftige linke Unterarm eines weiteren Mannes schlingt sich um seinen Oberarm. Daneben die zweite Figur,
eigentümlich kniend auf dem beschuhten Fuß einer ganz unten liegenden Person, den ausgestreckten Arm in den Hüften abgestützt. Sein nach vorne gebeugter Kopf ruht auf dem Rücken einer nächsten Person, von deren Kopf dichtes Haar auf den wie zum Schlaf unter sich aufgestützten Unterarm fällt. Die kniende Figur ist fast als ganze von der Seite her zu sehen und zeigt sich als ein Fragezeichen, wie es sich direkt an die hintere Ladebordwand des LKW-Aufbaus gedrückt hatte und dort eingefroren war.

Ein Problem waren eher die Flashbacks. Das erste Mal, als ich solch eines hatte, war der Blick in die Zeitung, in der zu meinem Erstaunen ein Foto von dem geöffneten LKW veröffentlich war, auf dem reglose Körper mit einem medial aufgefrischten Artikel daneben abgebildet waren. Das war die erste Situation, in der ich mir gedacht habe: Was habe ich da eigentlich wirklich gesehen, was habe ich da wirklich miterlebt?
Wolfgang W., Sanitäter

Und ich denke später, als ich wieder mit mir alleine im Auto sitze: Nicht nur die ineinander verschlungenen Arme kräftiger Männer erinnerten mich an eine Art zeitgenössischen Tanz. Besonders aber dieser kniende Mensch war mitten in einer Performance, in der er das Fragezeichen der Conditio humana gegeben hatte, erstarrt. Was für eine Inszenierung! Und noch einmal ein Stück Straßenecke weiter schleicht mir die Frage durch den Kopf, warum der Körper dieses Menschen, der fragezeigende, tanzende Leichnam beim Öffnen der Ladentüre nicht herausgefallen war. Leichenstarre, ja. Doch hätte ihn der Druck durch das Gewicht der anderen 70 Leichen im Inneren des LKW nicht ins Freie drücken müssen? Nein, er kniete weiter wie eingefroren da, man konnte die Ladetür danach problemlos wieder schließen und den LKW von Parndorf nach Nickelsdorf schleppen.
Meine Antwort, unbeholfen und doch hilfreich: Alle diese 71 Körper, jeder einzelne dieser Körper, hatte aufgehört, ein einzelner zu sein. Sie waren, so wie sie niedersanken,
zu einem, einem einzigen Körper geworden, zum Körper des allesGleichmachenden, des alles Begleichenden.

Seite aus »cahier d‘art« 2016

71, die Primzahl. Teilbar nur durch sich und durch die Zahl 1, die ihrerseits nicht als Primzahl gilt. Die Primzahl leitet sich aus dem Lateinischen numerus primus ab. Es bedeutet die erste Zahl, womit gemeint ist, dass eine Primzahl nicht zusammengesetzt, sondern primär in der Bedeutung von ursprünglich ist. Ursprünglich kamen die 71 Toten im LKW aus Afghanistan, dem Irak, Syrien und dem Iran. Primär wollten sie in die Freiheit, wie sie sie verstanden.
71 mal.

Das Besondere daran ist ja, dass solche Tragödien beinahe täglich im Mittelmeer stattfinden, dass aber dieser Fall der erste war, der sich praktisch vor unserer Haustüre abgespielt hat. Ich glaube, es wurde die ganze Situation, die damals vorgeherrscht hat und die auch wohl heute noch so vorherrscht, mit einer ganz anderen Schärfe
ins Bewusstsein unserer Bevölkerung getragen.

Johann F., Staatsanwalt

Der Begriff Primzahl, die erste Zahl, täuscht als vermeintlich mathematisches Phänomen darüber hinweg, dass es im Grunde nur eine einzige Unteilbarkeit gibt: Das Leben selbst, das Leben in seiner materialisierten Substanz. Jeder Mensch ist sich selbst Ursprung im außerbiologischen Sinne. Jeder Mensch ist die Primzahl: das radikal Singuläre, die Einzigartigkeit des Wesens, die Ursprünglichkeit des Individuums. Kein Mensch steigt nur teilweise ins Grab. Kein Mensch erliegt der erstickenden Hölle nur in Teilen, ein Teil lebend, ein oder zwei oder drei Teile erstickt. Kein Wesen durchläuft das Sein dividierbar, keines als multipliziert. Jedes Leben eine Unteilbarkeit, primär und ursprünglich. Jede Geteiltheit die Last des gequälten Gewissens, der Schuld. Schuld ist Teilung des Unteilbaren. Teilbar ist nur das Teilbare, das große, fremde, zugleich benützte und benützbare, das wuchernde und sich fortentwickelnde Andere in der Provinz unserer Wirklichkeit – das uns Thema wurde, als, wie geöffnet durch die Ladetüren eines LKWs, die großen Flüchtlingsströme sich ihr Flussbett suchten. Wir könnten Flüchtlinge aufteilen auf ganz Europa. Wir könnten sogar teilen mit ihnen. Das Leben des einzelnen teilen können wir nicht.

NUMERUS PRIMUS

Am Ende egal welcher Teilung des Lebens steht die Zahl des Todes. Sie wird mit breitem, imaginärem Pinselstrich an die Ladebordwand geschrieben und widerspiegelt, unlesbar und gerade im Wegsehen ersichtlich, die Form einer in sich geschlossenen Null. Sie ist so unteilbar wie die Zahl des Lebens.


Der Text entstand als einer von weiteren 20 Beiträgen burgenländischer AutorInnen für das Theaterstück »71 oder Der Fluch der Primzahl«, das ab 4. Jänner 2017 in Parndorf und anderen Spielstätten des Burgenlandes gezeigt wird. Regie führt Peter Wagner, der zeitgleich mit der Entwicklung des Stückes Interviews mit einer Reihe von Personen aufzeichnete, die an der Aufarbeitung der Tragödie von Parndorf Anteil hatten. Der vollständige Wortlaut der Interviews sowie die ungekürzten Texte der 21 AutorInnen werden gemeinsam mit Exponaten, die während zweier Symposien des eu-art-networks in der Cselley Mühle 2015 und 2016 entstanden sind, in dem (Kunst)Buch »71 oder Der Fluch der Primzahl«, Edition Marlit, 2017, veröffentlicht.


Biographisches zu Peter Wagner »

1956 geboren in Wolfau, Burgenland. Schriftsteller seit dem 20. Lebensjahr. Zunächst Hörspiele, Erzählungen, aktionistische und musikalische Versuche wie »Motorsägensymphonie« 1981, mehrere LPs mit eigenen Songs, später verfassen und inszenieren von Theaterstücken. In den letzten fünfzehn Jahre entstanden etwa 30 Bühnenwerke u.a. das am Schauspielhaus in Kiel uraufgeführte Stück »Die Mühle« oder in Österreich aufgeführte Stücke wie »Lafnitz«, »Die Nackten«, »Oberwart. Mon amour«, »Wenn wir einmal Engel sind« u.a. Seine Werke sind in mehrere europäische Sprachen übersetzt. In den letzten Jahren widmete sich Peter Wagner vorrangig seiner eigenen unabhängigen Filmproduktion.
www.peterwagner.at

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