Theodora Bauer [AT]

Zum Symposium 2018
entstandenes Werk von Theodora Bauer [AT] »
»Das ungemeine Verschwinden von R.
Versuch einer Geschichte; nein, ein Bericht.«

Seit R. weg ist, weiß ich mir nicht mehr richtig zu helfen. Meine Erinnerungen an sie sind spärlich, dünnen immer mehr aus, obwohl ihr Verschwinden meinem Empfinden nach noch gar nicht so lange zurückliegt. R. war nie eine besondere Schönheit gewesen, und dennoch hatte ihr Wesen etwas Erhabenes. Der hohe Gang, die schmalen Hüften, sie wirkte verletzlich und doch unheimlich stark, sehnig, zäh. Eine Frau wie sie hätte mir unter anderen Umständen nicht gefallen. Aber unter diesen –

Man hatte mich vorgewarnt, und trotzdem war da eine große Überraschung gewesen, als sie verschwand; eine Kränkung irgendwo, die Verletzung und eine Wunde, die ich mir nicht eingestehen wollte. Ihr selbst war auch bei sehr eingehender Betrachtung der Sache kein Vorwurf zu machen. Sie kam und ging, nichts anderes war abgemacht gewesen. Man hatte mich vorgewarnt: Durch nichts war sie zu halten, wenn sie gehen wollte; und wenn sie da war, wollte man sie nicht gehen lassen. Ich wisse nicht, worauf ich mich einließe, hatten sie gesagt, und natürlich hatten sie recht gehabt. So viele hatte schon ein ähnliches Schicksal ereilt wie mich. Doch ich hatte mir gedacht, dieses Mal würde es anders sein, mit mir würde es anders sein, ich würde sie halten können, sie würde bleiben, freiwillig und ohne Zwang; sie müsste doch wissen, was sie mir bedeutete. Und dann war da ihr plötzliches, hallendes Fehlen in meinem Leben, das sich still und leise um sie herum angeordnet hatte, fast, ohne dass ich es gemerkt hatte. So machte sie auf die ihr eigene Art mit meinen kindischen Träumereien Schluss.

R. war an einem Abend verschwunden, erzählte man sich. Ich war an diesem Tag gar nicht im Lande, ein Umstand, der mir nun Sorgen bereitet. Vielleicht hätte ich sie zum Bleiben überreden können. Sie hatten einen Sommerausflug gemacht, waren an den Waldrand gefahren; ein Lagerfeuer am See, sie hatten es sich so schön vorgestellt. Sie waren um das frisch entzündete Feuer gesessen, hatten gesprochen, angeregt; ihre Kleider waren noch feucht gewesen vom Wasser, das in Tropfen an ihren Körpern gehangen war nach dem Schwimmen, und da, plötzlich, war es dem Ersten aufgefallen: R. war weg. Zuerst hatten sie sich nichts daraus gemacht, waren sitzen geblieben, hatten gescherzt; diese Frauen, und immer entzögen sie sich zu den unpassendsten Gelegenheiten – aber R. war nicht wiedergekommen. In der vollständigen Dunkelheit erst, als ihr Fehlen nicht mehr zu leugnen gewesen war, hatten sie sich aufgemacht, um sie zu suchen. Erfolg hatten sie keinen gehabt, doch das ist an dieser Stelle wohl nicht mehr verwunderlich.

R. hatte, trotz ihrer Schweigsamkeit, immer einen heilsamen Einfluss auf ihre Umgebung ausgeübt. Es gibt Menschen, die durch ihre schiere Anwesenheit heilen. Ihr Gesicht mag gar nichts aussagen über diesen Prozess, oder ihre Gesten, sie mögen selbst gar nichts wissen von ihrer Gabe – und dennoch. Ruhe und Wohlgefühl fließen aus ihnen in zahmen Wellen, man spürt sie kaum um die Füße, und netzen tun sie doch. Sie sagen: Das Meer ist nah, Heilung ist greifbar, und einen Moment lang ist die Welt so, wie sie sein sollte. Menschen wie R., mit ihrer Pragmatik, ihrer Ungezwungenheit und diesem gewissen herben Charme, der in jeder ihrer Bewegungen liegt, vermisst man erst, wenn sie weg sind. Aber dann reißt einem ihr Fehlen ein plötzliches Loch ins Herz, die Luft zum Atmen fehlt, das feine Material, aus dem wir gesponnen sind, löst sich auf und wir zerfließen unbestimmt, wie weiches Sonnenlicht, wie schimmernder Zucker im weiten See.

Ich weiß, sie warten noch auf R., aber um sie zu finden tun sie nichts mehr. Sie haben das Suchen schon aufgegeben. Das, glaube ich, würde sie ihnen nachtragen: Dass sie aufgegeben haben. Man gewöhnt sich an ein Leben ohne R., das habe selbst ich feststellen müssen, wo ich doch gedacht hatte, ohne sie geht nichts. Man vergisst alle irgendwann. Man vergisst R., obwohl sie das wahrscheinlich nicht gerne hören würde. Doch alle Bemühungen wären sinnlos, jede Anstrengung wäre umsonst. R. ließ sich noch nie durch Provokationen locken, auch nicht durch Herausforderungen; wenn sie kommen will, kommt sie von selbst. So zumindest erzählen sie es sich, und erleichtern sich damit gegenseitig das Gewissen, nehmen sich damit gegenseitig die Verantwortung von den Schultern, die sie und niemand sonst an ihrem Fehlen tragen.

Ich glaube noch immer daran, dass sie uns mit ihrem Verschwinden etwas sagen wollte. Dass sie mir damit etwas sagen wollte. Sie sagen zwar, ich sollte mich nicht so ernst nehmen, und wer ich schon sei, dass sich so eine wie R. aus mir etwas mache, ausgerechnet aus mir – sie ist schon längst über alle Berge und schmeißt sich nun einem anderen an den Hals – aber ich glaube das nicht. Ich sehe etwas anderes. R. ist eine freie Frau, das ist mir klar; aber wenn sie an diesem verhängnisvollen Abend am Lagerfeuer besser auf sie aufgepasst hätten, wenn sie ihre einfache und doch so wichtige Anwesenheit nicht so selbstverständlich genommen hätten, vielleicht wäre sie geblieben. Vielleicht wäre sie geblieben, wenn sie gewusst hätte, dass man sie braucht.

Ich kenne sie nicht so gut, wie ich meine; ich kann darüber kein abschließendes Urteil bilden. Aber ich glaube, dass ihr Verschwinden einen Zweck hatte. Nicht Trotz, nicht Hader, keine rachsüchtige Lehre, die sie uns erteilen wollte – nein, sie muss sich etwas gedacht haben dabei. Nur was – was? Das ist der Punkt, an dem meine Gedanken stocken, und alles zurückkehrt zu den Anfängen, zu ihrem Weggehen ohne Worte, ohne Warum, ohne Grund. Manchmal, in dunkler Nacht, sehe ich sie in der Tiefe des Sees schwimmen wie einen weißen Schleier, die Augen offen, ihr Blick undurchdringlich und abgeschlossen, dicht wie Metall. Ich sehe sie nackt, und diese Nacktheit scheint mir so klar und deutlich zu sprechen von allem, was diese Welt zusammenhält, wie ich es mit Worten nicht vermöchte – aber ich schweife ab. Ich öffne dann die Augen, selbst, weit, es ist kein Wasser um mich herum, keine Nacht, nur das dunkle Glimmen der Straßenlaternen hinter meinem Fenster, die ihre körnige Saat in die Finsternis streuen. Ich beruhige meinen Atem, versuche, alle Gedanken an sie aus meinem Kopf zu drücken, doch es will mir nicht gelingen. Irgendwer ist immer wach um diese Zeit; jemand, der Gitarre spielt, der Hund des Nachbarn, der hinter der Wohnungstüre verhalten knurrt, ein betrunkenes Gellen auf der Straße vor dem Haus. Nichts hilft, in der Stille immer wieder sie, es tut mir weh, ich tu mir weh mit all den Fragen zwischen meinen Zähnen, die ich ihr nie stellen konnte, weil sie ging.

Einmal fühle ich diesen Schmerz, bedingungslos und ohne Ende; einmal habe ich sie fast vergessen, und bin darüber still beschämt. Keine zwei Momente sind dieselben, seit sie verschwunden ist; kein Tag vergeht, ohne dass ihr Schatten wie eine seltsame Mahnung über meinen Gedanken hängt. Sie sagen, ich solle mich damit abfinden; das ist die neue Welt, das ist mein neues Leben ohne R.; aber das kann und will mir nicht gelingen. Wenn ich glaube, ihr Schatten hat sich verzogen, gleitet sie lautlos und tot durch meinen Traum. Ich kann sie nicht unter die Oberfläche drücken, wie ich sollte; dort schlägt sie bittere Wellen. Was mit ihr zusammenhängt, kann kein Ende haben: R. bleibt verschwunden. Die Fragen bleiben aufgerissen, offen. Und wie um mich Lügen zu strafen, lebt alles ganz einfach vor sich hin.

von Theodora Bauer zum Thema »Respekt«

Biographisches zu Theodora Bauer [AT] »

1990 in Wien geboren, Studium an der Universität Wien, Bakkalaureat in Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (2013), Bachelor in Philosophie (2015).  Publikation des Debütromans »Das Fell der Tante Meri« (2014) im Picus Verlag und des Essays »Così fanno i filosofi« (2016) im Limbus Verlag. Das Theaterstück »papier.waren.pospischil« steht seit 2016 bei Schultz & Schirm unter Vertrag. Der zweite Roman »Chikago« (2017) erschien ebenfalls im Picus Verlag. Teilnahme am 20. Klagenfurter Literaturkurs im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Preises mit dem Manuskript von »Chikago« (2016). »papier.waren.pospischil« gewinnt den 1. Preis beim Festival “Die Freiheit des Lachens«, ausgeschrieben vom Salzburger Landestheater (2017).  Aufführung des Theaterstückes »Am Vorabend« nach einem Text von Marie von Ebner-Eschenbach beim Thalhof Festival in Reichenau an der Rax (2018). Theodora Bauer erhält den Anerkennungspreis der Burgenlandstiftung Theodor Kery für »Chikago« (2018) und das DramatikerInnenstipendium des Bundes für ein in Arbeit befindliches Theaterstück (2018). Seit September 2018 moderiert sie abwechselnd mit Alfred Komarek die Literatursendung »literaTOUR«, die im österreichischen Sender ServusTV ausgestrahlt wird.

theodorabauer.at

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