Peter Menasse [AT]

Zum Symposium 2018
entstandenes Werk
von Peter Menasse »
»Über Respektspersonen«

Eins
Das Leben meiner Großmutter Ella war geprägt von Fluchten. Die ersten acht Jahre lebte sie in Berditschew, einer Stadt in Russland, bis dann 1905 eine Welle von Pogromen über die Juden hereinbrach. Mit Hilfe eines ruthenischen Bauern – heute würde man ihn als Schlepper bezeichnen – konnte sie gemeinsam mit Mutter und Schwester ins damalige Österreich fliehen. Der Bauer, so erzählte sie, habe sie sich über die Schulter gelegt und durch den Grenzfluss getragen. In Tarnopol, im äußersten Osten der österreichischen Monarchie, absolvierte sie später eine Lehre als Schneiderin und nähte bald schon für alle Nachbarn, um ihren Unterricht selbst bezahlen zu können.

Als Ella siebzehn Jahre alt war, begann der Erste Weltkrieg. Im August 1914 passierten Einheiten der russischen Armee die galizische Grenze und besetzten Tarnopol. Wer konnte, brachte die jungen Frauen der Familie in Sicherheit. Ella wurde von Nachbarn, die selbst drei Töchter hatten, in einem Leiterwagen mitgenommen. Sie flohen nach Westgalizien, von dort mit der Bahn über Ungarn nach Wien.

Ella fand schnell Arbeit, zuerst als Haushälterin, dann als Schneiderin. In Wien heiratete sie und bekam drei Kinder. Der Betrieb, in dem ihr Mann Jakob arbeitete, ging 1930 im Zuge der Wirtschaftskrise bankrott. Man überließ dem Mitarbeiter als Abschlag für die Abfertigung ein kleines Souterrain-Lokal gleich neben dem Franz Josefs-Bahnhof. Hier begann meine Großmutter als selbstständige Schneiderin. Weil man dafür keinen Gewerbeschein brauchte, nähte sie vorerst nur Schlafröcke und Blusen. Später absolvierte sie alle notwendigen Prüfungen. Zwei Jahrzehnte nach ihrer zweiten Flucht beschäftigte sie zwanzig Mitarbeiterinnen. Im Jahr 1938 war Ella eine der ersten, die verstand, was es geschlagen hatte. Bis auf eine Nähmaschine ließ sie alles zurück und floh mit ihren Kindern nach England.

Dort begann Ella erneut als Haushälterin bei einer wohlhabenden Familie, etablierte sich aber bald wieder mit ihrem goldenen Handwerk. Sie konnte schließlich mehreren jüdischen Familien Jobs in England verschaffen und ihnen so die rettende Flucht aus Österreich ermöglichen. Über Jahrzehnte betrieb sie einen kleinen Schneidersalon, in dem andere jüdische Emigranten, aber auch Spanier, die vor der Franco-Diktatur geflüchtet waren, Arbeit fanden.
Meine Großmutter wurde 92 Jahre alt, in ihrem Fluchtland respektiert und geliebt.

Zwei
Der Kanzler besänftigt die Ängstlichen mit engelsgleichen Worten. Er versichert, dass alle Fluchtrouten geschlossen werden, dass alle potentiellen Eindringlinge schon weit entfernt von Europa abgewiesen werden, dass niemand die heimische Harmonie stören wird können. Das Fremde hat keine Chance.
Der Kanzler spricht nicht über Menschenrechte, nicht über das unendliche Leid, das in den Kriegsgebieten die Schwächsten trifft. Wer nicht in den engen Grenzen des Landes geboren wurde, darf keinen Respekt erwarten. Der Kanzler und seine Vorfahren mussten vermutlich niemals flüchten.

Der mit dem Kanzler in großer Harmonie regierende Partner sagt das Gleiche, will aber nicht so schön sprechen, wie es der Kanzler tut. Die Protagonisten dieser Partei verteufeln Asylsuchende und unterstellen ihnen, sie würden nur kommen wollen, um den Einheimischen alles zu nehmen.

Auf den Fußballplätzen und im Wirtshaus werden die Signale verstanden. »Scheißkanaken« schreit sagt man jetzt, »Türkenschweine« und Ähnliches. Wird es dabeibleiben, dass bloß geschrien wird?

Drei
Meine Mutter ist 94 Jahre alt. Ihre Jugend hatte sie in England verbracht, wohin sie mit ihrer Mutter, Ella der Schneiderin, flüchten hatte können. Dort ging sie zur Schule und arbeitete anschließend in einer Munitionsfabrik, um beizutragen, die Nationalsozialisten zu besiegen. Sie lernte meinen Vater kennen, der auch nach England geflüchtet war und heiratete. Nach der Rückkehr scheiterte die Ehe bald und es begannen existentielle Sorgen, hatte sie doch wegen des Kriegs keinen Beruf erlernen können. Sie bekam dank ihrer Englisch-Kenntnisse einen Job als Sekretärin in einem amerikanischen Unternehmen, versorgte ihren kleinen Sohn und ging mehrmals in der Woche abends in eine Handelsschule. Geld war kaum da, und doch schaffte sie es, mich die Armut nicht spüren zu lassen. Im siebten Bezirk, unweit des zerbombten Spittelberg-Areals lebten Menschen unter noch schlechteren Bedingungen als wir. Meine Mutter lud die ärmeren unter meinen Schulkollegen oft zum Essen ein.
Als sie feststellte, dass die Hausmeister-Wohnung im Souterrain kein Warmwasser hatte, ging sie im Haus von Tür zu Tür, um die Leute zu überzeugen, dass man zusammenlegen müsse, um auch für die Hausmeister menschenwürdige Zustände herzustellen. Leicht war das nicht, denn sie galt als die »Neue«, die Jüdin, die später zugezogen und in jeder Hinsicht suspekt war.
Meine Mutter half, wo sie konnte. Sie nahm am Wiederaufbau dieses Landes teil, an dessen Zerstörung sie im Gegensatz zu manchen anderen nicht beteiligt war.

Vier
Wer für Menschenrechte argumentiert, gerät sofort in die Defensive gegenüber dem sich rasant verstärkenden Mainstream. Ohne ein vorangestelltes: »Ich bin ja auch nicht für zügellosen Zuzug«, kannst du nicht mehr über Humanität reden. Der Respekt für Andere wird zur Nestbeschmutzung. Gab es in unserer Geschichte nicht schon einmal einen ähnlichen Sog zur gleichgeschalteten Menschen-Verteufelung?

Der bis heute von Vielen geachtete Wiener Bürgermeister Karl Lueger vor dem Reichsrat in Wien 1894: »Der Abgeordnete Popper hat behauptet, der Antisemitismus wird einmal zugrunde gehen. Gewiss, meine Herren, wird er einmal zugrunde gehen, aber erst dann, wenn der letzte Jude zugrunde gegangen sein wird.“

Adolf Hitler über Karl Lueger: »Der Mann und die Bewegung galten in meinen Augen als ‚reaktionär‘. Das gewöhnliche Gerechtigkeitsgefühl aber mußte dieses Urteil in eben dem Maße abändern, in dem ich Gelegenheit erhielt, Mann und Werk kennenzulernen; und langsam wuchs die gerechte Beurteilung zur unverhohlenen Bewunderung. Heute sehe ich in dem Manne mehr noch als früher den gewaltigsten deutschen Bürgermeister aller Zeiten.«

Fünf
Wolfgang Ambros, Sänger:
»I red und red,
I versuch zu erklärn,
I bin schon ganz hasrig, mir fallt nix mehr ein.
Wos soll jetzt werdn?«

Biographisches zu Peter Menasse [AT] »

1947 geboren in Wien, Studium der Betriebswirtschaft. Lebt in Trausdorf/Trajštof, Burgenland und in Wien. Arbeitet hauptberuflich als Kommunikationsberater. Bis 2017 Chefredakteur des vier Mal jährlich erschienene jüdische Magazins NU (www.nunu.at), Autor des Buches »Rede an uns« (edition a) und Gastkommentator in zahlreichen österreichischen Medien. Mitwirkung an der Fernsehserie »Dajgezzen« im Wiener TV-Kanal »Okto« (www.okto.tv);
www.petermenasse.at

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