Zum Symposium 2017
entstandenes Werk von Frank Piontek [DE] » (EN) here »
Als Robert Musil nach jahrelanger Arbeit am Roman aller Romane, dem Mann ohne Eigenschaften, noch an kein Ende gekommen war, weil ein Ende nicht zu erreichen, nur zu skizzieren war (in Gedanken, Notizen, Um- und Abwegen, Alternativen, Varianten, Entwürfen und Träumen), saß er im Schweizer Exil. Fern der Heimat, musste er täglich fürchten, finanziell völlig auszubluten; pleite war er eh schon. So kam einer der größten¹ und bedeutendsten² Schriftsteller des
20. Jahrhunderts, dessen Werk nicht nur mir größtes Vergnügen gemacht hat, an ein seltsames Ende – denn die Diskrepanz zwischen seinem Roman und seiner irdischen Existenz wa¹¹r so unvergleichlich wie das Werk selbst. Doch seltsam: Von heute aus betrachtet verflüchtigten sich Musils gravierende Lebenssorgen, sobald man es mit dem Werk (und sei es dem zweiten unvollendeten Band) zu tun hatte. Der Autor Musil musste niemals fürchten, ins Aus katapultiert zu werden, die Lebensfurcht war immens, das Werk blieb groß und seltsam heiter, der Mensch verzweifelte, bis ihn an einem Genfer Mittwochstag der Schlag traf. Eigentlich furchtbar – und uneigentlich?
Worauf kommt es an?
Auf die Gegenwart – auf die Zukunft. Dass Hoffnung enttäuscht werden kann, ist eine Binsenweisheit. Dass Furcht (k)ein guter Ratgeber ist, wissen nur die Opfer und Nutznießer des gegenwärtigen bundesdeutschen Sozialsystems. Auch als vollzahlendes Mitglied der Künstlersozialkasse ist man nicht disponiert, einen Mann ohne Eigenschaften als gigantisches Fragment zu hinterlassen.
Gestern stand ich vor IHM. Er fixierte mich, mich ruhig, aber intensiv betrachtend, als prüfte er mich. Ich hielt‘s nicht lange vor ihm aus, obwohl es mir angenehm war, in seiner Wohnung zu weilen. Dabei war ich gar nicht in seiner Wohnung – sie sah nur so aus, und befand sich ein Stockwerk unter der seinen (No. 8), die nun ein offensichtlich leicht Geistesgestörter bewohnt, der einen handgeschriebenen Zettel an die Tür geklebt hat: er wohne in einem Kühlschrank, man habe ihm seinen Ofen entfernt. An den Fenstern sehe ich vertrocknete Blumen, wildwuchernde Pflanzen, darüber relativ schmale Papierstreifen, die wohl als Sichtschutz dienen sollen. Sehr seltsam.
In Musils neuer Wohnung, die ich mir gut als die seine vorstellen kann, hält eine Frau vom GAV, der Grazer Autorinnen Autorenversammlung, Wache. Sie lässt uns freundlich ein und begleitet uns an den kleinen Zimmern, die nach der Küche folgen, vorbei durch die ehemaligen Räume: zumal das Schlafzimmer, durch das man durch musste, wollte man in das Allerheiligste eindringen, wo ein langer Schreibtisch einst die Manuskripte und Bücher trug. Dahinter: immer noch das eigentümlich geschnittene Bücherregal: ein Arbeitsraum, der auch ein Wohlfühlraum ist – trotz des nicht sonderlich starken Lichts und des schrecklichen Bau- und Teerlärms, der von der Gasse durch die Fenster dringt. Auch dies passt: denn Musil beschrieb einst in schöner Ironie die »stille Gasse« mit ihren Verkehrgeräuschen, in der er zu leben und zu arbeiten habe (das Arbeitszimmer war angeblich schallgeschützt; kaum vorstellbar bei den alten Fenstern). Ein dunkles Blau, weiter vorn ein intensivdunkles Grün: das alles ist so kräftig und deutlich wie Musils Prosa. Hier also (»Hier also«) schrieb er, zum benachbarten Palais Salm schauend – einem entzückenden kleinen Bau, wesentlich kleiner als das gegenüberliegende Palais Rasumowsky, das der Gasse den Namen gab –, über Ulrich, der in seinem Palais saß und durch das nach wie vor existierende Gitter schaute. Den kleinen Hügel sehe ich nicht, aber ich kann mir vorstellen, wie Ulrich und Agathe die sehr nahen Fußgänger beobachten. Es lärmt derweilen, es nieselt ins Grau hinein, drinnen schafft es die Erinnerung, dass die Zeit ein wenig stehen bleibt auch dank IHM, der mich unverwandt anschaut, prüfend, weniger fragend als schweigend – und in diesem Schweigen unendlich fragend. Was soll ich sagen? Ich bleibe stumm, ich gehe, angstlos.
Wir unterhalten uns ein bisschen mit der freundlichen Frau von der GAV; sie sagt, sie könne sich nicht vorstellen, wo Martha Musil eigentlich gemalt habe. Im Arbeitszimmer ist kaum Platz für eine Staffelei denkbar. Noch so eine Bildungslücke: Martha Musil, die Malerin. Das schöne Porträt schaut uns immerhin an, gegenüber steht Musil, Rücken gerade, in seinem Arbeitszimmer. Ich umrunde den Tisch, blättere in den Publikationen der GAV, der Grazer Autorinnen Autorenversammlung, auch dort liegen Tote, die auf seltsame Weise lebendig erscheinen. Aus Klagenfurt flattert eine gebundene Sammlung von Musil–Aphorismen, im schönen Querformat, auf uns zu – auch das ist ein Geschenk, das wir unweit der Wohnung, im Café Zartl durchblättern, wo wir den letzten Wiener Operettenkomponisten bei der Arbeit sehen, einen höflichen tschechischen Kellner sich entschuldigen fühlen und auf jenen rotgoldgestreiften Polstern sitzen, auf denen Musil vermutlich nie saß. Es ist kein Zufall, dass keine seiner Szenen in so etwas köstlich Zerstreuendem wie einem Caféhaus spielt.
Es ist ein Grundzug der Kultur, dass der Mensch dem außerhalb seines eigenen Kreises lebenden Menschen aufs tiefste misstraut, also dass nicht nur ein Germane einen Juden, sondern auch ein Fußballspieler einen Klavierspieler für ein unbegreifliches und minderwertiges Wesen hält.
Robert Musil
¹ Größe: Das allzu oft gebrauchte Wort meint, was es meint. Musils Roman ist ein Gebirge, an dem man sich noch lange abarbeiten wird.
² Bedeutend: im Sinne Goethes, d.h.: der Deutungen kann kein Ende sein.
Biographisches zu Frank Piontek [DE] »
1964 in Berlin geboren. Seit 1988 in
Bayreuth. Viele Aufsätze und Artikel über Musiktheater, Kunst und Literatur. Umfangreiche Blogs über Musils »Mann ohne Eigenschaften« und Jean Pauls »Die unsichtbare Loge« (für die Bayerische Staatsbibl.) Vorträge und Lesungen in Bayreuth, Leipzig, Salzburg, Paris, Berlin, Kassel, Bamberg, Verona, Venedig u.a. 1997 UA Theaterstück »Casanova kam zu spät« (Markgräfl. Opernhaus). 2013 UA Siebenkäs (Studiobühne Bayreuth). Dramaturg bei der szenisch-musikalischen Uraufführung von Wagners »Männerlist größer als Frauenlist« (Hauptstadtoper Berlin 2013). Regie- und Dramaturgiehospitanzen: Semper-Oper, Wiener Staatsoper, E.T.A.-Hoffmann-Theater Bamberg. Mitkonzeption des »Jean-Paul-Wegs« in Oberfranken und des Jean-Paul-Museums Bayreuth.