Zum Symposium 2015
entstandene Texte Siegmund Kleinl »
- über fracht et cetera
- sie(h)
- »Zehn GeBo(o)tschaften an Europa«
über fracht
et cetera
einundsiebzig
vier kinder
acht frauen
neunundfünfzig männer
aus syrien
vom krieg vertrieben
von drei männern
zwei bulgaren
einem afghanen
in einen kühllaster
verfrachtet
auf der A 4
im burgenland
auf einem pannenstreifen
vierundzwanzig stunden
in einem luftlosen frachter
das aggregat
der zustand
acht frauen
vier kinder
in der
kühlbox
neunundfünfzig männer
ohne luft
vier kin
in der
acht frau
menschenfracht
nacht
in der kühl
sagkammer
jammer
vier k
acht fr
neunundfünzig m
auf dem laster
in der kühlbox
vier
acht
neunundfünfzig
in lasterhaft
vierundzwanzig stunden
auf dem pannen
an der A 4
aus sy
aus dem krie
vierachtneunundfünf
zig
zig
zig
auf der A 4
vier vier vier
drei
zwo
eins
marsch über die meere
marsch marsch
marsch durch die länder
marsch marsch
zug um zug
über die vier
vie
4
8
9 und 5
zig
zig
zig
auf der A 4
und wir
sie(h)
wer denkt daran, was uns geschehen?
das land, das uns geboren, hat uns verstoßen.
dort herrscht der ausnahmezustand:
wie beutewild hat man uns ausgeweidet.
aus dem gehege heimat ausgewildert,
sind auf der flucht wir über land und wasser.
bedrängt vom terror, der jede sicherheit
wie mg-kugeln durchsiebt, sind wir verdammt,
uns schleppern auszuliefern. fischdosen sind
die boote, wir die sardinen. verschachtelt
ineinander, schwimmen wir im öligen schweiß
das brennende salz des wogengischtenden
meers auf der versengten haut. da schreit es
land! aus den vertrockneten körpertiefen,
land! doch was in sicht wir haben, entschwindet
in der aussichtslosigkeit der lage. gesperrt
die häfen. aufs offene meer zurückgetrieben,
ermattet in erschöpfung jede hoffnung.
viele überleben´s nicht: kinder vor allem,
frauen, auch männer. europas macht
wirft sich als gewaltige woge über das boot
und streicht uns die segel. wir rudern und rudern.
wir schaufeln ein grab im wasser.
es ist für die fische. wir sind die fische.
gefangen im netztwerk, werden im schlepptau
an land wir gezogen. wir stehn auf den plätzen
herum, liegen im gras wie das rindvieh.
wohin mit ihnen? heißt es in einer sprache,
die wir nicht verstehen. verschlossen
die unbewohnten gebäude.
zelte werden errichtet. wir sind nomaden.
monaden sind wir, getier.
das zelt erzählt: vorübergehend ist
unser hiersein. hier, wo ist das?
wo sind wir da hingekommen?
von kameras aufgenommen,
erscheinen wir im tv. dort sieht man,
wie weit es mit uns gekommen ist,
sagen menschen des landes, für die asyl
ein fremdwort ist. doch langsam bürgert sich´s ein.
wir schöpfen hoffnung aus dem tiefen brunnen
der seelen von menschen, die noch nicht
vertrocknet sind. das grundwasser steigt
und speist die gefragten gründe nach
unserem flüchtigen sein mit dem wort
für den leidenden menschen: ecce homo.
»Zehn
GeBo(o)tschaften
an Europa«
1
Bootschaft
voll?
2
Jeder Mensch ist eine Bootschaft, die wenigstens einen Menschen mit sich über Wasser halten kann.
3
Aus Booten darf nicht ausbooten werden.
4
Das Haus Europa hat mehr Fremdenzimmer als Fremde.
5
Europa ritt auf einem Stier nach Afrika. Von dort brachte sie große Herden mit. Es wurden nur wenige zurückgelassen. Die ausgenommenen Herden verwandeln sich in Menschen und suchen nach den geraubten Tieren.
6
Europa flüchtet sich in Ausflüchte. Diese gewähren ihm kein Asyl. Es muss wieder in sich zurückkehren.
7
Für das wahre Europa ist kein Mensch eine Ware.
8
Zunehmend fallen Tote ins Gewicht.
Wer nimmt uns ab, dass wir ausgewogen gewichten?
9
Weil uns die kommenden Lebenden nicht willkommen sind,
werden Tote nach Europa eingeschleppt.
10
Rechtspruch
statt
Rechtsbruch.
Biographisches zu Siegmund Kleinl »
1956 geboren in Schützen am Gebirge, Österreich, Germanistik- und Theologiestudium in Wien, Professor am Gymnasium Wolfgarten und an der Pädagogischen Akademie in Eisenstadt, publizierte zahlreiche Prosatexte, Gedichte und Essays in Zeitschriften, etwa in der burgenländischen Literaturzeitschrift wortmühle (Edition Roetzer), in der Anthologie »Der dritte Konjunktiv« (Haymon-Verlag) und in den Kunstmagazinen Pannonia, Parnass, Nike und Grapheion. Lebt in Schützen am Gebirge, Österreich, und arbeitet als Schriftsteller, Germanist. Bis 2015 zehn Buchveröffentlichungen (Epik, Lyrik, Dramen).
www.burgenlandkultur.at