Katharina Tiwald [AT]

Zum Symposium 2013
entstandener Text von Katharina Tiwald »


Sehr geehrte Damen und Herren,

ich –

jaja, wir brechen immer mit diesem Ich wie mit der Tür ins
Haus in die Umstände, in die Reden, auch in die amorphe,
ungestalte Gedankensuppe brechen wir ein mit unserem
Ich-Sagen. Wir wachen auf, morgens, und müssen uns das
Ich herbeikonturieren, uns wieder einfassen in ein Ich, uns
eingrenzen; uns als Ich erklären, bevor das mit dem Tagesgeschäft
wieder losgeht. Wir ichisieren uns und müssen
uns ichisieren.
Wir alle sagen Ich irgendwann. Milliarden Ichs ertönen in
der Welt, je nachdem, wo gerade die Sonne aufgeht, und
das Ich-Sagen breitet sich aus wie ein Lauffeuer. »Ich« ist
scheinbar ein einfaches Wort. Aber das ist ein
schnatterndes Ich oder ein
knatterndes Ich, ein
pfeifendes Ich, ein
ächzendes ich oder ein
verwegenes, verträumtes, zerhackendes, spielendes, gespieltes
Ich vielleicht.
Und die Nationen erwachen, jeden Tag. Sie erwachen, von
Osten kommt die Sonne, und da steht z. B. ganz Österreich
auf und sagt: »Ja, hallo, guten Morgen, ich bin Österreich.«

In seiner Gesamtheit nennt man das – Geschichte.
Es kann schon sein, dass Sie als Person, wenn Sie aufwachen
und irgendwann »Ich« sagen oder sagen müssen
und allerhand sagen müssen, dass Sie sagen: Das ist mir
wurscht, ob Österreich ´Österreich´ sagt oder »Ich« oder
einen entflochtenen Zwielaut, E-U, mir ist das wurscht.
Dazu würde ich, die ich mich heute schon als K. T. identifiziert
und besprochen habe, meinen: die Geschichte pfeift
drauf, ob Ihnen das wurscht ist. Wenn Sie, wie es Niki
Lauda im »Profil« von dieser Woche deklariert, nicht wählen
gehen, weil Ihnen alles das wurscht ist, was mit dem
Ich-Sagen einer Nation zu tun hat, dann wird die Geschichte
über Sie lachen und der Staat wird auch ohne Ihr Stimmgewicht
ganz laut »Ich« sagen. Auch dann, wenn gerade ein
Hollywoodfilm über Sie gedreht wird.
Nationen sagen nun einmal »Ich«, obwohl das meistens
sehr knarrende, pfeifende Ichs sind: auf jeden Fall vielstimmige,
jeder Laut und alles übereinander gelagert ein
anderer Tonfall. Wenn Österreich neben, sagen wir, Ungarn
liegt, und die Sprache und die Bildhaftigkeit tun uns da
einen Gefallen, denn man kann sich da vorstellen: da liegen
zwei seit Jahrhunderten nebeneinander wie zwei Ehegatten;
die müssen jeden Morgen irgendwie Ich sagen.
Innerhalb des Ichs, das beide sagen, spielt sich aber eine
ganze Sinfonie ab, ein Lied, ein krauses, je nachdem, wie
strikt der Taktstock geführt wird. Der Prozess des Mauerfalls,
der Wende, der Öffnung war der Moment in diesen
vielen Liedern, als das Ich-Sagen der Nationen zu knarrend
geworden war, zu unerträglich. Vielleicht, weil der sowjetkommunistische Taktstock ein fremdes Ich vorgegeben hat.
Die Menschen haben sich das Ich-Sagen von den Staaten
zurückgeholt und haben das Lied vom Ich, das die Nationen
trällern, pfeifen und knattern, für sich in Anspruch genommen.
Die Mauer ist niederichisiert worden. Und genau
diesen Moment haben wir im Lauf der vergangenen Woche
in einer Art loser, kollektiver Analyse bearbeitet.
Wir AnalytikerInnen sind lustvoll in einer Art Erinnerungsblase
geschwommen, provoziert durch das Thema der
gefallenen Mauer; wir nähen sozusagen an einem Erinnerungspatchwork,
wir malen an einem Gemälde aus Fetzen
und Gedanken und Gerüchen. Wir. Wir sind als schwimmende,
verschwimmende, eigentlich nur lose grenzhafte
Ichs Repräsentanten von etwas, das in der Luft lag. Und
weil wir, wie es der vormalige kommunistische Staatschef
Wojciech Jaruzelski neuerdings ausdrückt, in einer beneficial
multilateral co-operation leben dürfen, ist es möglich,
das zu artikulieren.
Manche der KünstlerInnen kennen die Ichisierung im Spätkommunismus aus persönlichster Erfahrung. Dóra Zambó
zum Beispiel, deren Panzersperren aus Schaumstoff Sie
gerade überklettert haben, Jahrgang 1978 und in Sopron
geboren, erzählte mir vom absichtsvollen Vergessen der
Schuluniform, vom Zurücktgeschicktwerden nachhause, um
mit der Schuluniform die individuelle Buntheit zuzudecken.
Die Gleichheit, sagte sie, sei so eintönig wie das ungarische
Flachland. Übrigens musste sie auch einmal wegen
Leninverspottung in der Ecke sitzen.
Zsolt Ferenczy, der zwei Gemälde zeigt, den Grenzstein
mit der bezeichnenden Zahl 1922 und den Männerrücken
mit Pflock, war 18, als Alois Mock und Gyula Horn den
Stacheldraht durchknipsten. 1989 machte er seine Matura
und bekam eine Frage zu Antigone gestellt. Zsolt zog in
seiner Maturaarbeit Parallelen zwischen der mythologischen
Figur, die den Leichnam ihres Bruders fordert, um
ihn zu beerdigen, und der Umbettung von Imre Nagy, der
1958 hingerichtet worden war und den man 1989 aus dem
Massengrab holte.
Eigentlich geht es in der Kunst aber um Ent-Ichung, um
ein Stellvertreterdasein, ein Verschwimmen von Grenzen.
All das wünsche ich Ihnen in der Performance von Janine
Schneider zu erkennen. Sie werden verleitet sein, »Des
kann i aa« zu sagen; davon würde ich abraten, unterschätzen
Sie die langsame Bewegung nicht. Janine Schneider
kommt mit ihren Bewegungsflüssen aus der Meditation,
und Sie werden sehen, was für ein Blickmagnet das ist,
wie sie die Blicke inhaliert und wie sie plötzlich in diesem
Stellvertreterkörper, wie jeder Künstlerkörper einer ist,
möglicherweise eine lang verstorbene Tante erkennen, ein
Kind, eine Darstellung aus dem Dreißigjährigen Krieg, den
Erzengel Raffael – oder eine flüchtende DDR-Bürgerin im
September 1989. Lassen Sie sich nicht täuschen, wenn ein
Künstler laut »Ich!« schreit. Er schwimmt, er ist Stellvertreter;
Kunst ist nicht nur Entgrenzung, sondern Zusammengrenzung.
Die Stellvertretererinnerung werden Sie auch in den Werken
von Karolina Szymanowska sehen, die sich an die Stirn von
Wojciech Jaruzelski erinnert und an bröckelnde Statuen,
sie war sieben Jahre alt beim Mauerfall. Stellvertretend
für viele, die hier die Grenze überquert haben, stehen die
Fotografien von Hans Wetzelsdorfer, der in seinen Arbeiten
zwei Zeitebenen einander gegenüberstellt: das Heute in
Farbe, mit Blick zurück; die gleichen Menschen, kopflos
und schwarzweiß, mit Fluchtbegleitern in der Hand, Koffer,
Stofftier. Stellvertretend für tausende Kilometer grünes
Band, dort, wo die Grenze war, der Zaun, hat Markus Anton
Huber einen poetischen Grenzverlauf, eine Ex-Grenze, die
Repräsentation dieses grünen Bandes gezeichnet.
Mit dem Begriff der Mauer haben sich Ivan Bukovský und
Sylvia Galos beschäftigt, beide in abstrakter Malweise,
Bukovský mit Industriematerialien, Rostschutz, Asphalt,
Latex, sehr angreifbar, auch der Zugang von Sepp Laubner
geht in diese Richtung, nämlich, ein vorgefundenes, vor
Farbe eingetrocknetes, graues Leinwandfleckerl als Mauer
umzudeuten und es zu beschriften, Zwischenräume zu
artikulieren. Darum geht es auch bei Sylvia Galos, die nicht
nur die äußeren, sondern die inneren Mauern meint und das
auch noch mit zerplatzenden Seifenblasen aus der Maschine
auf den Punkt bringt.
Sehr konkret und wahrscheinlich am konkretesten formuliert
Tobias Hermeling als Zeitzeuge. Auf die Schrankwand seines
Jugendzimmers klebt er, der sonst malt, eine »Collage
aus Echt« sozusagen, handfest, stichfest; er arrangiert eine
Art persönlichen Briefroman, Briefe von der Verwandtschaft
aus dem ostdeutschen Halle an den frisch Geflohenen nach
Krefeld. Auf seine Weise auch sehr konkret arbeitet Klaus
Ludwig Kerstinger, indem er Motive aus dem Paneuropäischen
Picknick verkreuzt mit Zitaten aus dem Banknotendesign
und dem Sport, bei dessen Bewettkämpfung
auch noch der übelste Staat seine Muskeln zeigen darf. Im
Bootshaus von Priska Streit – ein Name wie ein Gedicht! – ,
das die in sich ruhende Vorbereitung ebenso zeigt wie den
Aufbruch durch das Boot, das wiederum blaue Wellen,
allerdings aus Tau, in sich hat, können Sie dann gedanklich
weitersegeln zu den Tonfiguren von Elisabeth Howey,
die, laut dem Schlagwort »Übernahme« auf dem Plakat,
vorgefundene Objekte verwendet und fliegen lassen hat.
Robert Schneider ließ sich von TeilnehmerInnen inspirieren
– und einem Sturm. Milan Lukác lässt einen Windhund aus
dem Labor fliehen, eine Reminiszenz an eine frühere Arbeit.
Johannes Haider macht metallenes Geschrei. Ich erinnere:
wir ichisieren uns, und das ist gut so, vielleicht wären wir
ansonsten Flachland, alle miteinander. Aber der Künstler
schreit sozusagen für Sie mit, er ist ein Echt-Ichener und
ein An-Ichener.
Das Niederichisieren, wie es 1989 mit der Mauer passiert
ist, geht in der Masse leichter; die Ambivalenz dieser
Massen fängt Wolfgang Horwath in seinem verwischten Bild
von den Leipziger Demonstrationen ein. Es ist nicht alles
Gold, was glänzt. Was offen scheint, muss nicht offen sein.
Wir sagen aber mutig »Ich«, und umso mutiger sollten wir
in unseren nunmehr offenen Räumen auch »Wir« sagen lernen,
ohne unsere Iche ad acta und ins Flachland zu legen.

Text: Katharina Tiwald


Biographisches zu Katharina Tiwald »

Geboren 1979, studierte Sprachwissenschaft und Russisch in Wien, Petersburg und Glasgow. Lehrbeauftragte am Institut für Slawistik/ Wien und freie Schriftstellerin. Lebt und arbeitet in Wien und im Südburgenland. 2005  – Erzählband »Schnitte – Portraits – Fremde« edition »lex liszt 12«/ Oberwart; Bücher und Theaterstücke: »Die erzählte Stadt. Unbekanntes Sankt Petersburg«, Herbig/München; 2007 und 2009- Katharina Tiwald spielt ihr Stück »Messe für Eine« im OHO / Oberwart, im Kosmostheater Wien und am Festival »Glaube & Heimat/ Theaterland Steiermark«; 2007 – BEWAG-Lyrikpreis; 2009 Förderpreis der Theodor-Kery-Stiftung; 2009/ 2010  – Staatsstipendium für Literatur; 2010/ 11  – Hans-Weigel-Stipendium des Landes Niederösterreich für den Roman »Weiße«; 2011  – Aufführung der Kurzstücke »körperlicht&  -schlüsselpein« und »der tod&das mädchen« Schielefest/St. Pölten; 2011  – Uraufführung »Das Cosima Panorama«, OHO/Oberwart.

Fotos: © www.wetzelsdorf.at
Katharina Tiwald

www.katharinatiwald.at

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