Siegmund Kleinl [AT]

Text von Siegmund Kleinl
für »cahier d‘art« 2016 »

Flucht aus der Ferne

Im August 2015, es war der 27. Tag des Monats, wurde an der Ostautobahn bei Parndorf im Burgenland (Österreich) ein U-Boot gesichtet, das auf Asphalt gelaufen war.

Da stand es, auf sechs LKW-Räder gebockt, ohne Steuermänner, verlassen, ohne Rettung.

Aus dem Untergrund an die Oberfläche geschwemmt, verwandelt in einen Kühltransporter, konzipiert, um verderbliche Waren vor dem Verderben zu schützen. Luftdicht abgeschlossen stand er da und niemand wusste, woher und wohin und was sich in seinem Innern befand.

Ein trojanisches Pferd auf burgenländischem Boden. Wenn sich sein Bauch öffnete, was entstiege ihm? Helden, die Zerstörung und Untergang bringen?
Bauch eines Fisches, der mehr als einen Jona verschluckt hat?
Büchse der Pandora, der, sobald sie geöffnet würde, Unheil entströmt?
Wozu dieses Bemythen?

Lenke, o Seher, nicht ab vom Blick durch die luftundurchlässigen Wände des in sich geschlossenen Kühlkastens, dem Kastenwesen, deren Verweser unsichtbar sind wie verweste Menschen, die schon riechen. Es ist etwas Furchtbares ringsum ruchbar geworden, das immer größere Kreise zieht.

In jenem Spätsommer befanden wir, meine Frau und ich, uns auf einer Kreuzfahrt im östlichen Mittelmeer. Der Luxusdampfer hatte mehr als zweitausend Personen an Bord, doppelt so viel hätten vermutlich die Reise machen wollen, aber das Schiff war voll.
Weniger voll als die Boote, die aus der entgegengesetzten Richtung kamen, so fern und unscheinbar, dass sie nicht zu sehen waren, weil sie auch nicht gesehen werden sollten. Selbst am Tag nicht, den wir Kreuzfahrer, vor dem Alltag flüchtend, in salzfrischer Meeresluft und hauttönender Sonne auf der weitläufigen Decklandschaft verbrachten, liegend, schwimmend in blauen Süßwasserpools, trinkend, essend, flanierend, Musik in den Ohren, von Animateuren stets animiert, nicht zu rasten und zu ruhen, Dinge zu tun, die Spaß
machten und viele zu Narren. Ein Narrenschiff des Konsumgeistes, der gespenstisch die Menschen an Bord heimsuchte, sie hin und herzerrte, sodass sie nicht wussten wohin.

Was für ein Narr ich war, mich hierher zu begeben auf der Flucht vor dem Stress des alltäglichen Lebens in einen ganz anderen nicht alltäglichen Stress. Ein Hüpfen von einer Insel zur anderen, von einem Reiz zum andern, das rasch reizlos wurde für mich und ausgereizt war, noch ehe es so richtig begann, nachts, wenn die Bäuche schwollen beim Mitternachtsdinner, geschwollen vom Übermaß die Gaumengenüsse, ein Tanzen losging und Trinken, Gesang und Gekreische und Spaß, dass es ein Funsinn war. Ich langweilte mich, was gleich mehrere Animateure anstachelte, mich gegen die Untätigkeit aufzustacheln, damit ich was erleben könne. Ich aber igelte mich ein, um Ruhe zu haben vor den vielen Angeboten. Das Gebot der endlosen Stunden am Schiff: Es schadlos überleben.

Schadlos überlebt haben viele Flüchtlinge die endlosen Stunden auf See nicht.

Ihre Überlebenskämpfe sind nicht selten in der Tiefe des Meeres erloschen.

An der Oberfläche treibend, schwemmt es die leblosen Körper in unser Gedächtnis: Vor der Insel Farmakonisi in der Ägäis, unweit der Seegrenze zur Türkei, starben in der Nacht zum 20. Januar 2014 zwölf Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan. Ihr Boot kenterte, als das griechische Küstenwachschiff es bei unruhiger See und mit hoher Geschwindigkeit ins Schlepptau nahm, um es zurück zur türkischen Küste zu bringen.

Am 6. Februar 2015 ertranken an der Grenze zur spanischen Exklave Melilla mindestens 15 Menschen bei dem Versuch, den Grenzzaun im Meer zu überwinden.

Seit Oktober 2014 hat die italienische Marine mit dem Namen Mare nostrum (Unser Meer) 140.000 Menschen aus Seenot gerettet. Im selben Zeitraum sind etwa 3.000 Menschen beim Versuch, über das Meer nach Europa zu gelangen, ums Leben gekommen.
Die Flucht über das Wasser gleicht einer Wal-Fahrt. Das Meer ist ein riesiger Fisch,  der die Übersetzenden auf dem Weg an die Gnaden-Orte verschluckt und im Glücksfall wieder an Land speit.

Nicht weniger gefährlich ist der Transport in U-Booten, getarnt als LKWs, über Autobahnen und Landstraßen.
Am 12. Oktober 2013 überquerten 50 Personen den Evros, einen Fluss an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland. Die Menschen kamen aus Syrien und hatten lange auf diese Gelegenheit gewartet. Sie überquerten in Plastikbooten den Fluss.
Am griechischen Ufer angekommen, fuhren sie mit Lastwagen weiter. Alle wurden von der Polizei gefasst, ausgeraubt und per Boot in die Türkei zurückgebracht.

Am 27. August 2015 gelang es 71 Flüchtlingen aus Afghanistan, dem Iran, dem Irak und Syrien, zusammengepfercht auf einer etwas mehr als 12 Quadratmeter kleinen Ladefläche, in der Kühlbox eines Lastwagens bis nach Österreich zu kommen. Ihre Flucht kam zum Stillstand auf einem Parkplatz an der Ostautobahn. Da stand der Flucht-LKW, ein Kenotaph, der in die Nacht des Abendlandes ragte, ein Grabmal für Menschen, die darin erstickt waren:

Niemand flüchtet freiwillig. Die Menschen werden zur Flucht gezwungen.

Die Zwangsherren ziehen sich zurück in ihre undurchschaubaren Glaspalasttürme, um von da ihre Operationen zu planen und ihre Aufrüstungspläne zu exekutieren. Das schlägt tiefe Wunden ins Menschheitsfleisch: Ausbeutung, Elend, Tod von Tausenden Flüchtlingen:
Weil die Maschinerie des Weltlaufs den Menschen die Luft nimmt.
Weil der ökonomische Rationalismus bei seiner Razzia niemanden ungeschoren lässt.
Weil das Internet durch sein virtuelles Überallseinkönnen die Illusion erzeugt, dass man auch real überall hinkommen kann.
Weil Europa Touristen erwartet und Flüchtlinge kommen.
Weil die weltpolitischen Leitsysteme alle Hähne abdrehen:
den Lufthahn, den Gashahn, den Geldhahn.
Wer kräht da noch nach flüchtigen Menschen?
Weil sich beim Exodus der vielen kein Meer mehr teilt,
sich kein Weg mehr auftut in das Gelobte Land.
Weil die Verheißungen des gelobten Europa sich nicht mehr erfüllen.

Weil schon an den Grenzen den Flüchtenden Zäune blühen,
die Stacheln im Fleisch der Hoffenden sind.
Weil die Hoffnungen trügen, die darauf setzen,
dass der Mensch dem Menschen ein Mensch ist.
Elend durch ein kapitalistisches Wirtschaftssystem, das den
Gewinn maximiert und die Menschlichkeit minimiert.

(Intervention 1: Schreit es nicht aus unzähligen europäischen Kehlen: Refugees welcome?).
Ausbeutung durch Landraub und Enteignungen in Afrika, weil westliche Konzerne ohne Rücksicht auf die Lebensbedingungen gegen Menschen dieser Länder investieren.

(Intervention 2: Sind die Menschen dort selbst schuld am Hunger? – Natürlich sind sie selbst schuld. So der Pressesprecher der Deutschen Bank, Frank Hartmann, am 5.12.2015 in einem Telefoninterview).
Elend durch Ausbeutung von Naturressourcen und Arbeitskräften, die unmenschlichen Bedingungen ausgesetzt sind.

(Intervention 3: Die in unserer Gesellschaft zutiefst verankerte Ausprägung, dem afrikanischen Kontinent helfen zu müssen, darf kein Maßstab der Politik sein. So der Generalsekretär der Initiative Südliches Afrika der Deutschen Wirtschaft, Andreas Wenzel, am 5.12.2015).
Ausbeutung durch industriellen Fischraub und illegale Müllentsorgung an den westafrikanischen Küsten.

(Intervention 4: Entwicklungswirksam, rentabel, umwelt- und sozialverträglich tragen wir mit unserer Arbeit zu dauerhaft besseren Lebensbedingungen in Entwicklungsländern bei.
So die deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft DEG).
Tod durch erzwungene Freihandelsverträge mit afrikanischen Ländern. Verträge, die längst Europas Massenvernichtungswaffen sind. So die Schriftstellerin Aminata Traore.

(Intervention 5: Wir finanzieren Investitionen, die Arbeitsplätze schaffen und Devisenerlöse erwirtschaften. Diese wirken als Motor für Wachstum und Entwicklung in den Entwicklungsländern. So die DEG).
Tod durch Waffen aus westlichen Rüstungsfirmen, die in vielen Ländern Bürgerkriege anheizen.

(Intervention 6: Krieg gegen den Terror. So die Verteidiger der Waffenlieferungen).
Tod durch die Jihadisten in Afghanistan, im Irak und in Syrien, die durch Waffen aus dem Westen unterstützt werden.

(Intervention 7: Die westlichen Militäreinsätze tragen dazu bei, Diktaturen zu stürzen und Demokratie, Freiheit und Frieden in die betroffenen Länder zu bringen. So die militärische Argumentation für die Einmischungs-Politik).
Tod durch Emissionen aus Industrie und Verkehr, die einen Klimawandel verursachen, der viele Menschen in den Entwicklungsländern um den Zugang zu Wasser und um fruchtbare Böden bringt.

(Intervention 8: Ohne Wirtschaftswachstum keine Entwicklung.
So die Befürworter des freien Marktes und der Allmacht des Kapitals).
Tod durch Strapazen auf der Flucht, die Menschen in überfüllten Booten und Lastkraftwagen die Luft nehmen.

(Intervention 9: Die Schlepper sind schuld, die ohne Rücksicht auf Menschleben auf Profit aus sind. So die von vielen Medien gesteuerte öffentliche Meinung).
Intervention gegen die Interventionen: So wie wir wirtschaften und handeln, wie wir arbeiten, konsumieren und Politik machen, kann es nicht weitergehen. – Das ist die Botschaft der Flüchtlinge und die Hinterlassenschaft der Toten.

Biographisches zu Siegmund Kleinl »

1956 geboren in Schützen am Gebirge, Österreich, Germanistik- und Theologiestudium in Wien, Professor am Gymnasium Wolfgarten und an der Pädagogischen Akademie in Eisenstadt, publizierte zahlreiche Prosatexte, Gedichte und Essays in Zeitschriften, etwa in der burgenländischen Literaturzeitschrift wortmühle (Edition Roetzer), in der Anthologie »Der dritte Konjunktiv« (Haymon-Verlag) und in den Kunstmagazinen Pannonia, Parnass, Nike und Grapheion. Lebt in Schützen am Gebirge, Österreich, und arbeitet als Schriftsteller, Germanist. Bis 2015 zehn Buchveröffentlichungen (Epik, Lyrik, Dramen).
www.siegmund-kleinl.at

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