Hamed Abboud [SY]

Textbeitrag von Hamed Abboud
für »cahier d‘art« 2016 »

Übersetzung aus dem Arabischen: Larissa Bender (AT)

Was wurde
aus den
Zugvögeln?


Ich bin kein Flüchtling im Burgenland. Und selbst wenn ich es wäre – denn so steht es auf dem provisorischen grünen Blatt Papier, das ich gleich nach meiner Ankunft hier erhalten habe –, fühle ich mich nicht als ein solcher, denn ich kenne den Landeshauptmann. Er hielt mit seinem Auto und nahm mich mit, als ich auf dem Weg zum Zigarettenladen war. Dass er der Landeshauptmann war, sagte er mir damals nicht, das erfuhr ich erst später. Ich kenne die Männer der Müllabfuhr hier, die Nachbarn und ihren Kater Bruno, und ich kenne die Dorfdeppin, die sich an meinen Anblick gewöhnt hat und meinen Gruß erwidert. Was wird aus der armen Frau werden, wenn ich fort bin? Ich kenne die Betrunkenen, die mir auf dem Markt raten, normale Eier statt Bioeier zu kaufen, weil sie zu teuer seien, und sich dann in aller Ruhe wieder zurückziehen, um sich ein neues Bier zu kaufen.

Ich bin kein Flüchtling im Burgenland. Aber sicherheitshalber versuche ich mir die Sozialversicherungsnummer zu merken, die sie mir in Abwesenheit zugeteilt haben. Manchmal sage ich sie sogar vor dem Einschlafen auf, obwohl ich in Syrien nicht einmal meine Nationalnummer auswendig konnte. Ich versuche sie mir zu merken, weil ich Angst habe, dass sich eines Tages mein Name wegen der schwierigen Aussprache ändern könnte. Deshalb gebe ich die Nummer jetzt jedes Mal zum Besten, wenn ich mich jemandem vorstelle.

Hamed Abboud »Was wurde aus den Zugvögeln?«
Arabisch für »Was wurde aus den Zugvögeln?«

Sie hätten auf das grüne Blatt Papier besser schreiben sollen, dass ich eine Waise bin, die ihre Heimat durch ein Verbrechen verloren hat, dessen Fall bis zu diesem Moment gegen unbekannt geführt wird, und dass ich mich der ersten fürsorglichen Heimat in
die Arme warf, der ich auf meiner Strecke begegnete.

Auf unserem Weg zu einem der überfüllten Grenzübergänge zwischen Österreich und Ungarn versuchte ich meiner aus der Schweiz kommenden Journalistenfreundin, die die Situation der Flüchtlinge dort fotografieren wollte, zu erklären, dass die Vögel auf der Flucht vor dem Winter ohne Visum von einem Land ins andere zögen. Warum also bräuchten wir ein Visum, wir, die wir geflohen sind vor einem Frühling, in dem die Kälte des Winters der ganzen Welt eingesickert ist. Ich weiß, dass sich die Jahreszeiten unterscheiden, aber die Flucht ist dieselbe. Ich fragte meine Freundin, ob die Regierung die Flügelabdrücke der Vögel registriert habe,  die von weit her gekommen sind.

Meine Freundin begriff nicht, dass ich eigentlich vorschlug, die Vögel gleich bei ihrer Ankunft in Lager zu stecken, sie zu registrieren und auf die verschiedenen Bundesländer Österreichs zu verteilen, damit sie den einheimischen Vögeln, die in ihrem Leben noch nie den Geschmack der provisorischen grünen Blätter gekostet haben, nicht den Platz streitig machen.

Die Strecke vom Camp zum Zigarettenladen zu Fuß beträgt bei schönem Wetter 2,7 Kilometer und wird im Winter möglicherweise viel länger.

Die Strecke vom Camp zum Arzt beträgt 6,6 Kilometer.

Die Strecke von der Türkei nach Griechenland beträgt 250 Kilometer.

Die Strecke von Griechenland nach Österreich beträgt drei Monate und zwei Nächte.

Die Strecke von der Tür unseres Zimmers zur Tür der Leiterin des Camps, die niemals lächelt, beträgt 50 Meter.

Aber die Strecke zur Geburtstagsparty eines Freundes oder zur Mittagessenseinladung eines Nachbarn ist die längste Strecke überhaupt, weil ich ehrlich gesagt nicht das Geld für ein paar Blumen oder für eine Flasche Wein besitze, um sie meinen Freunden mitzubringen. Jedem, den ich traf, musste ich erklären, dass ich nur selten meinen Geburtstag feierte, und dass wir Geburtstage im Allgemeinen nicht häufig feiern, und dass ich, seit ich Syrien
verlassen habe, meine Facebookseite schließe, sobald mein Geburtstag naht, damit mich niemand in die peinliche Situation bringt und »Alles Gute zum Geburtstag!« schreibt. Denn ich bin nicht allzu nah dran an diesem Guten, ich bin sogar sehr weit entfernt davon, seitdem alles in Kilometern gemessen wird und ein Treffen mit meiner Familie und meinen Freunden eine komplizierte Rechenaufgabe geworden ist.

Nachdem ich die ersten drei Monate meines Aufenthalts im Camp verbrachte, habe ich begonnen, Deutsch zu sprechen. Aber als ich hinausging, um den Bus in die nächste Stadt zu nehmen und dort etwas zu kaufen, ließ ich meine Befähigung, deutsch zu sprechen, in
meinem Zimmer zurück. Ich wusste, dass der Fahrer auch ohne die Zuhilfenahme der Sprachen der Welt merkt, dass ich nicht über mehr Geld verfüge, als ich zum Leben brauche, und den Fahrschein nicht kaufen kann. Er lud mich mit einer Geste ein, mich ohne zu
bezahlen hinzusetzen, und ich legte als Ausdruck meiner Dankbarkeit meine Hand aufs Herz. Ein paar Monate später bekam ich ein wenig Geld. Ich ging zu dem Fahrer, um ihm zehn Euro als Entschädigung für meine Fahrten ohne Fahrschein zu geben, doch er nahm sie trotz meines Beharrens nicht an.

Der Fluchtweg an und für sich war nicht schwierig, weil ich ihn schweigend zurücklegte, und wenn ich – sei es zu mir oder zu meinem Bruder – etwas sagte, dann: »Morgen kommen wir an; es ist nicht mehr weit; ich habe Hunger; mir ist kalt; noch ein paar Berge, dann haben wir es geschafft.«

Flüchtling sein bedeutet die Entfremdung in der Sprache; die Sprache nicht zu beherrschen. Oder dass dein Wortschatz der Sprache jenes Landes, in dem dein Weg endete, am Ende ist.
An einem meiner ersten Tage im Burgenland ging ich zum Zigarettenladen und fragte den Verkäufer auf Englisch nach der Bushaltestelle. Doch er wies mit dem Finger zur Tür, damit ich
verschwinde, und so ging ich die langen 6,6 Kilometer zum Camp zu Fuß zurück.

Ich war mir sicher, dass der Ladenbesitzer mein Auftauchen sogleich nach meinem Verschwinden wieder vergessen würde – nach ein paar Beleidigungen oder harter Kritik an der Flüchtlingskrise  –, denn ich war damals nichts als ein Flüchtling mit einer im
wahrsten Sinne des Wortes befremdlichen Sprache.

Einige Monate später ging ich wieder zu dem Laden, ließ dieses Mal meine Fähigkeit, Deutsch zu sprechen, aber nicht in meinem Zimmer zurück. Ich legte mir alles, was ich gelernt hatte, zurecht, um mich gleich nach meinem Eintreten auf den Ladenbesitzer zu stürzen, doch dazu blieb mir ehrlich gesagt gar keine Zeit.
Nachdem ich zwei Worte auf Deutsch gesagt hatte, ließ mich sein breites Lächeln innehalten; ich hatte keine Chance, meine Rede zu beenden. Er kam sofort hinter der Theke hervor, stürzte sich auf mich und klopfte mir auf die Schulter, um meinem guten Deutsch Anerkennung zu zollen, auch wenn es zwei Worte nicht überstieg.
Er beantwortete meine Frage und schickte mich auf den Weg.
Die Strecke von der Tür meines letzten Zimmers zur Tür meines ersten Zimmers beträgt 3.151 Kilometer. Sehen Sie, wohin es mich geführt hat und welche Strecke ich in meinem Leben zurückgelegt habe! Ich beneide die Vögel, weil sie ganz einfach von einem Ort zum anderen flattern. Und ich beneide sie, weil sie nicht die Sprache jedes Landes lernen müssen, in das sie fliegen. Und ganz sicher beneide ich den großen Vogel, der auf dem Rathausgebäude in Oberschützen lebt und tagelang fortbleibt, ohne die Behörden über sein Reiseziel zu informieren.


Biographisches zu Hamed Abboud »

Geboren 1987 in Deir Ez-Zor, Syrien.
Öffentliche Leseveranstaltungen seit 2005 in Syrien, Ägypten und Deutschland, Österreich und der Schweiz. Regelmässige Veröffentlichungen von Texten in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften seit 2005 in Syrien und im Mittleren Osten. Veröffentlichung des ersten Gedichtbands »Der Regen der ersten Wolke« (2012) im Verlag Arward Publishers International Inc. Stipendium der Jean-Jacques Rousseau der Akademie Schloss Solitude Stuttgart in Deutschland (2015).

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